Kennen Sie Leipzig? Nun ja, nicht die Stadt von heute ist gemeint, sondern die von 1984. Ein Luftkurort ist es bestimmt immer noch nicht, doch unsere Geschichte spielt in einer Zeit, da Neugeborene nach dem ersten Atemzug sofort schwarzen Auswurf husteten. Wenn der Wind günstig stand und nicht aus den staatlich anerkannten Chemiebädern Bitterfeld, Leuna oder Espenhain wehte, konnte man sogar Himbeer- oder Vanillearomen aus Miltitz riechen, was immer noch besser war als der übliche Geruch von Phenol. Im Winter verstärkten ungezählte Kohleöfen dieses Luftgebräu und die Fridays For Future – Jugend wäre wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen.
So war es nun mal und es war nicht schön. Und wenn es nicht schön ist, muß man sich´s schön machen. Das geht mit Trinken, das geht mit Sex und das geht mit Musik. Mit richtiger Musik. In der DDR gab es keine richtige Musik, zumindest keine, welche Tilo, Tom, André, Jan und Makarios hören wollten. Christoph auch nicht, aber der kam erst ein paar Wochen später dazu, als Tilo und Jan schon wieder weg waren.

Wir befinden uns also mitten in einem jener derart parfümierten Winter und die Fünf beschlossen, es sich richtig schön zu machen. Trinken und Sex hatte jeder selbst zu verantworten – aber die Musik, die richtige Musik, passiert nun mal nur in Gemeinschaft. Dieser Logik folgend, gingen sie an einem Abend im Februar in eine der berüchtigtsten Leipziger Spelunken, welche sich Bar nannte und Cockpit hieß, um eine Band zu gründen. Wenn man eine Band gründen will, und das gilt heute wie gestern, braucht man zuallererst einen Namen, denn aus diesem leitet sich alles andere ab.
Dieser Überzeugung waren die jungen Herren ganz und gar und so wurde nach vielen Stunden ausgiebigen Trinkens und Suchens nicht der erste beste sondern der beste Namen gefunden: Die Zucht.
Natürlich war ihnen klar, dass dieser Name in krassem Wiederspruch zu den sonst üblichen Namen allerlei bekannter und unbekannter DDR-Rock-Bands stand. Das erste Ziel war also erreicht.
Später wurden all diese Bands in den großen Topf „Ostrock“ gerührt, doch Die Zucht wollte nicht nur keinen Ostrock machen, sondern nicht mal an so etwas denken müssen. Die Zucht wollte Musik machen, wie sie gerade frisch und frei von ihren Altersgenossen aus dem Westen herüberschwappte. Punk und New Wave nannte man das und stieß hierzulande zumeist auf allergrößtes Unverständnis.

Dies wiederum gefiel den Fünfen sehr. Den zur Unverständnis passenden Namen hatten sie schon mal. Was fehlte, war nur die Musik. Meistens mündeten Bandgründungen ja umgehend in der Auflösung, denn neben fehlenden Proberäumen fehlte auch oft der unbedingte Wille, trotz mangelnder Fertigkeiten am Instrument einfach loszulegen. Wie durch ein Wunder traf sich Die Zucht drei Tage nach ihrer Gründung tatsächlich zur Probe und da alle ihre Instrumente auf einem ähnlich niedrigen Level spielen konnten, passte das. Es passte sogar sehr gut und binnen kürzester Frist entstanden Songs wie Endlos, Zucht und Ordnung oder Schutt und Asche. Klar, das klang alles recht holprig und poltrig, doch die Energie, die von dieser Musik ausging war einzigartig.
Ein weiterer Grund, dass sich Bands schnell wieder verabschiedeten, war das berühmte Personalkarussell. Auch Die Zucht blieb, wie schon erwähnt, davon nicht verschont und noch ehe der erste Ton erklang war ihnen Bassist Jan abhandengekommen. So mußte man wechseln, improvisieren, ein Keyboard dazunehmen, damit man zu fünft blieb, dieses wieder austauschen, Leute in den Westen verabschieden und trotzdem immer weitermachen. Irgendwann, im Sommer 1984 ersetzte dann Christoph den Bassisten Tilo und die Band bekam langsam so etwas wie eine Struktur. Spätestens jetzt wurde den verbliebenen vier Jungs, die nun als gestandene Herren dieses Album eingespielt haben, klar, dass da etwas ganz ungreifbar Besonderes auf dem Wege war.
Um es abzukürzen: Aus Die Zucht wurde ein gutes Jahr später Die Art. Ein Ergebnis einer ursprünglich nicht ganz ernst gemeinten und unerwartet bestandenen Einstufung. Mit dem Namen Die Zucht stand den inzwischen wieder fünfen (Saxophonist Konrad war der letzte Zugang) eine atemberaubende Karriere als Gefängniskapelle bevor, das hatte man ihnen unmißverständlich klar gemacht. Die Jungs wanden sich Wochen und Monate, spielten die Szenarien durch, wollten eigentlich weder Einstufung noch Namen verlieren und kamen zu keinem Ergebnis. Das Schicksal ihrer guten Bekannten von Wutanfall wollten sie nicht unbedingt teilen, das wäre einfach ein zu hoher Preis gewesen.
So blieb es ihrem Drummer Tom vorbehalten, den glücklichen Geistesblitz zu haben und im Alleingang den Namen Die Art zu erfinden und der zuständigen Behörde zu verkünden. Die vier anderen Bandmitglieder erfuhren davon bei der nächsten Probe, fremdelten etwas, aber Gott, was ist schon ein Name, wenn die Musik die gleiche bleibt.
Und somit schloss sich das Kapitel Die Zucht, welches eigentlich ein erstes eigenes Kapitel von Die Art ist. Nach und nach ersetzen neue Songs das Repertoire der Anfangszeit, nur einige wenige, wie Endlos oder das Heimatlied, gingen in immer neuen Versionen den kompletten Weg bis heute mit.
Fast schien es, als wären die Lieder der ersten beiden Jahre für immer verloren, denn außer weniger historischer Dokumente gab es keine Aufnahmen. Man hatte sich längst aus den Augen verloren, die heutige Band Die Art ist personell nur noch durch Sänger Makarios direkt mit Die Zucht verbunden. Doch wie man so schön sagt, unverhofft kommt oft.
Ein Festival klopfte an die Tür. Heldenstadt Anders hieß es und die Macher hatten es sich in den Kopf gesetzt, die zahlreichen Leipziger Bands der 80er Jahre für einen Abend wieder aufleben zu lassen. Also auch Die Zucht.
Aber geht das überhaupt noch, nach 35 Jahren? Es ging und es geht, stellten die nun nicht mehr ganz so jungen Männer beim ersten gemeinsamen Bier fest.

Und weil am Anfang der Geschichte das Cockpit Erwähnung fand, soll auch das Hotel Seeblick nicht verschwiegen werden, welches durch dieses erste Treffen Geschichtsanteile erworben hat. Einen Bandnamen brauchten sie hier nicht suchen, eine Einstufung nicht befürchten. Sie brauchten nur „Ja, wir machen das“ zu sagen. Manchmal sind Bandgründungen eben auch herzerfrischend einfach.

Allerdings, eines einzigen Auftrittes wegens wären sie nicht bereit gewesen, in die Abgründe ihrer Jugend einzutauchen. Da muß schon mehr kommen, viel mehr, da muß man schon ein Album machen, mit all den Krachern der Anfangszeit.
Das Ergebnis habt Ihr jetzt in den Händen und ihr seht es bestimmt wie wir. Die Wende kam für Die Zucht einfach fünf Jahre zu spät, denn mit diesen Songs, hach, gar nicht auszumalen, hätten sie sich sicher in den Rock-Olymp geschossen. Mindestens, wenn nicht gar noch weiter ….

(c) Makarios 2020