DIE ZUCHT – eine Story. Erzählt von Makarios

Kennen Sie Leipzig? Nun ja, nicht die Stadt von heute ist gemeint, sondern die von 1984. Ein Luftkurort ist es bestimmt immer noch nicht, doch unsere Geschichte spielt in einer Zeit, da Neugeborene nach dem ersten Atemzug sofort schwarzen Auswurf husteten. Wenn der Wind günstig stand und nicht aus den staatlich anerkannten Chemiebädern Bitterfeld, Leuna oder Espenhain wehte, konnte man sogar Himbeer- oder Vanillearomen aus Miltitz riechen, was immer noch besser war als der übliche Geruch von Phenol. Im Winter verstärkten ungezählte Kohleöfen dieses Luftgebräu und die Fridays For Future – Jugend wäre wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen.

So war es nun mal und es war nicht schön. Und wenn es nicht schön ist, muß man sich´s schön machen. Das geht mit Trinken, das geht mit Sex und das geht mit Musik. Mit richtiger Musik. In der DDR gab es keine richtige Musik, zumindest keine, welche Tilo, Tom, André, Jan und Makarios hören wollten. Christoph auch nicht, aber der kam erst ein paar Wochen später dazu, als Tilo und Jan schon wieder weg waren.

DIE ZUCHT in Neukieritzsch (1984) A.F. Harald, Makarios

Wir befinden uns also mitten in einem jener derart parfümierten Winter und die Fünf beschlossen, es sich richtig schön zu machen. Trinken und Sex hatte jeder selbst zu verantworten – aber die Musik, die richtige Musik, passiert nun mal nur in Gemeinschaft. Dieser Logik folgend, gingen sie an einem Abend im Februar in eine der berüchtigtsten Leipziger Spelunken, welche sich Bar nannte und Cockpit hieß, um eine Band zu gründen. Wenn man eine Band gründen will, und das gilt heute wie gestern, braucht man zuallererst einen Namen, denn aus diesem leitet sich alles andere ab.

Dieser Überzeugung waren die jungen Herren ganz und gar und so wurde nach vielen Stunden ausgiebigen Trinkens und Suchens nicht der erste beste sondern der beste Namen gefunden: Die Zucht.

Natürlich war ihnen klar, dass dieser Name in krassem Wiederspruch zu den sonst üblichen Namen allerlei bekannter und unbekannter DDR-Rock-Bands stand. Das erste Ziel war also erreicht.

Später wurden all diese Bands in den großen Topf „Ostrock“ gerührt, doch Die Zucht wollte nicht nur keinen Ostrock machen, sondern nicht mal an so etwas denken müssen. Die Zucht wollte Musik machen, wie sie gerade frisch und frei von ihren Altersgenossen aus dem Westen herüberschwappte. Punk und New Wave nannte man das und stieß hierzulande zumeist auf allergrößtes Unverständnis.

Dies wiederum gefiel den Fünfen sehr. Den zur Unverständnis passenden Namen hatten sie schon mal. Was fehlte, war nur die Musik. Meistens mündeten Bandgründungen ja umgehend in der Auflösung, denn neben fehlenden Proberäumen fehlte auch oft der unbedingte Wille, trotz mangelnder Fertigkeiten am Instrument einfach loszulegen. Wie durch ein Wunder traf sich Die Zucht drei Tage nach ihrer Gründung tatsächlich zur Probe und da alle ihre Instrumente auf einem ähnlich niedrigen Level spielen konnten, passte das. Es passte sogar sehr gut und binnen kürzester Frist entstanden Songs wie Endlos, Zucht und Ordnung oder Schutt und Asche. Klar, das klang alles recht holprig und poltrig, doch die Energie, die von dieser Musik ausging war einzigartig. 

Ein weiterer Grund, dass sich Bands schnell wieder verabschiedeten, war das berühmte Personalkarussell. Auch Die Zucht blieb, wie schon erwähnt, davon nicht verschont und noch ehe der erste Ton erklang war ihnen Bassist Jan abhandengekommen. So mußte man wechseln, improvisieren, ein Keyboard dazunehmen, damit man zu fünft blieb, dieses wieder austauschen, Leute in den Westen verabschieden und trotzdem immer weitermachen. Irgendwann, im Sommer 1984 ersetzte dann Christoph den Bassisten Tilo und die Band bekam langsam so etwas wie eine Struktur. Spätestens jetzt wurde den verbliebenen vier Jungs, die nun als gestandene Herren dieses Album eingespielt haben, klar, dass da etwas ganz ungreifbar Besonderes auf dem Wege war.

Um es abzukürzen: Aus Die Zucht wurde ein gutes Jahr später Die Art. Ein Ergebnis einer ursprünglich nicht ganz ernst gemeinten und unerwartet bestandenen Einstufung. Mit dem Namen Die Zucht stand den inzwischen wieder fünfen (Saxophonist Konrad war der letzte Zugang) eine atemberaubende Karriere als Gefängniskapelle bevor, das hatte man ihnen unmißverständlich klar gemacht. Die Jungs wanden sich Wochen und Monate, spielten die Szenarien durch, wollten eigentlich weder Einstufung noch Namen verlieren und kamen zu keinem Ergebnis. Das Schicksal ihrer guten Bekannten von Wutanfall wollten sie nicht unbedingt teilen, das wäre einfach ein zu hoher Preis gewesen. 

So blieb es ihrem Drummer Tom vorbehalten, den glücklichen Geistesblitz zu haben und im Alleingang den Namen Die Art zu erfinden und der zuständigen Behörde zu verkünden. Die vier anderen Bandmitglieder erfuhren davon bei der nächsten Probe, fremdelten etwas, aber Gott, was ist schon ein Name, wenn die Musik die gleiche bleibt.

Und somit schloss sich das Kapitel Die Zucht, welches eigentlich ein erstes eigenes Kapitel von Die Art ist. Nach und nach ersetzen neue Songs das Repertoire der Anfangszeit, nur einige wenige, wie Endlos oder das Heimatlied, gingen in immer neuen Versionen den kompletten Weg bis heute mit.

Fast schien es, als wären die Lieder der ersten beiden Jahre für immer verloren, denn außer weniger historischer Dokumente gab es keine Aufnahmen. Man hatte sich längst aus den Augen verloren, die heutige Band Die Art ist personell nur noch durch Sänger Makarios direkt mit Die Zucht verbunden. Doch wie man so schön sagt, unverhofft kommt oft.

Ein Festival klopfte an die Tür. Heldenstadt Anders hieß es und die Macher hatten es sich in den Kopf gesetzt, die zahlreichen Leipziger Bands der 80er Jahre für einen Abend wieder aufleben zu lassen. Also auch Die Zucht.

Aber geht das überhaupt noch, nach 35 Jahren? Es ging und es geht, stellten die nun nicht mehr ganz so jungen Männer beim ersten gemeinsamen Bier fest.

DIE ZUCHT im UT Connewitz 13.09. 2019 (c) Uwe Winkler

Und weil am Anfang der Geschichte das Cockpit Erwähnung fand, soll auch das Hotel Seeblick nicht verschwiegen werden, welches durch dieses erste Treffen Geschichtsanteile erworben hat. Einen Bandnamen brauchten sie hier nicht suchen, eine Einstufung nicht befürchten. Sie brauchten nur „Ja, wir machen das“ zu sagen. Manchmal sind Bandgründungen eben auch herzerfrischend einfach.

DIE ZUCHT 2019 erstes Wiedersehen vor Reunion im Hotel Seeblick (Leipzig)

Allerdings, eines einzigen Auftrittes wegens wären sie nicht bereit gewesen, in die Abgründe ihrer Jugend einzutauchen. Da muß schon mehr kommen, viel mehr, da muß man schon ein Album machen, mit all den Krachern der Anfangszeit.

Das Ergebnis habt Ihr jetzt in den Händen und ihr seht es bestimmt wie wir. Die Wende kam für Die Zucht einfach fünf Jahre zu spät, denn mit diesen Songs, hach, gar nicht auszumalen, hätten sie sich sicher in den Rock-Olymp geschossen. Mindestens, wenn nicht gar noch weiter ….

Christoph Heinemann (bg) 2019 / 1985 (Foto: AF)

(c) Makarios 2020

DIE ZUCHT – 2020

Dass ZUCHT UND ORDNUNG zum Motto des Jahres 2020 werden könnte hätte sich wohl niemand träumen lassen, als im Januar die erste Recording-Session über die Bühne ging. Dieser Titel, bereits im Orwell-Jahr 1984 uraufgeführt und vom Publikum gefeiert, musste unbedingt ins Hier und Jetzt transformiert werden. Das galt natürlich auch für die anderen musikalischen Rohdiamanten. Darüber war sich die Band schon Herbst 2019 einig, kurz nach ihrem ursprünglich als einmalig geplanten Konzert im Leipziger UT- Connewitz.

So beginnt DIE ZUCHT, 36 Jahre nach Bandgründung, ihre zeitlosen Songs zum ersten Mal in einem amtlichen Tonstudio aufzunehmen – trotz Corona-Lockdown.

Das Ergebnis – das Album HEIMATLIED

HEIMATLIED ist ein dringliches Statement in unsicheren Zeiten. Elf Tracks, neu eingespielt, neu arrangiert, treibende Beats mit druckvollem Sound, gemeißelt in Vinyl. Schroffer Post-Punk, sphärisch verspielte Tracks.

Ein reifes Album, keine Wohlfühlplatte. DIE ZUCHT hat ihre kreative Schaffenswut, beginnend in den frühen 80iger Jahren, selbstbewusst in die Gegenwart übersetzt.

Eine Geschichtsstunde

Deutsche Texte, gepaart mit frühen musikalischen Vorlieben für britische Bands wie Joy Division, The Stranglers oder The Cure (um nur einige zu nennen) belegten von Anfang an die künstlerische Eigenständigkeit der Leipziger Band, deren authentischer Klang durch Sänger Makarios ́ unverwechselbare Stimme geprägt wird.

Gegründet 1984 geriet DIE ZUCHT nur knapp ein Jahr später unter kulturpolitischen Druck. Um nicht mehr als illegal zu gelten beantragte die Band eine staatliche „Spielerlaubnis“. Die war in der DDR gesetzlich verpflichtend. Die politisch indoktrinierte Jury, die über die sogenannte „Einstufung“ entschied, erteilte der Band allerdings eine strikte Ansage:

Mit diesem Bandnamen habt ihr in der DDR keine Chance. Damit ist nur euer Verbot sicher.

DIE ZUCHT nannte sich ab Herbst 1985 DIE ART.

CH / JAF

Punk- und die „anderen“ Bands in Leipzig

Punk- und die „anderen“ Bands in Leipzig zwischen politischer Autonomie und künstlerischer Verwirklichung

Die letzte Dekade deutscher demokratischer Unterhaltungsmusikgeschichte von 1979 – 1989 erscheint gleichermaßen als eine Geschichte der Agonie wie des Aufbruchs. Kulturpolitische Entscheidungen unter der Führung des Dachdeckers und Schalmei-Liebhabers Honecker sowie die daraus resultierenden Restriktionen neben der Flucht bedeutender Künstler bedingten ein Ausdünnen der kreativen Kulturszene – Verluste, die sich bekanntermaßen nicht nur auf die Musik beschränkten, sondern an der gesamten Kunstszene der DDR zehrten. Mit Sanktionen einerseits und mit der Ausweitung der massenmedialen Unterhaltungsangebote andererseits wurde dennoch versucht, den Einfluss der Partei auf breitere Bevölkerungsgruppen – hauptsächlich Jugendliche – zu sichern.

Doch maßgeblich für die DDR-Musikszene und das Lebensgefühl einer ganzen Generation war das von den Apparatschiks nicht zu verhindernde Vordringen alternativer Musikrichtungen wie New WavePunk oder von den vielfältigen Formen kommerzieller Popmusik. Westliche Ästhetik fand beständig Eingang in den Alltag der gelernten DDR-Bürger – vor allen zuerst in den Großstädten: Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt etc. Westradio wurde gehört, Westfernsehen und die entsprechenden Musiksendungen geschaut, Verwandte und Messebesucher brachten Schallplatten der angesagten Bands mit – selbst im „Polnischen Informationszentrum“ der Stadt Leipzig gab es  – wahrscheinlich Raubpressungen – Tonträger von den Dead Kennedys zu kaufen. Zumindest den einen Tag lang, an dem die Platte herauskam. 

Eine komplette „Durchherrschung“ der kulturellen Bereiche, das zeigte die Praxis, war auch unter den Bedingungen der SED-Diktatur nicht möglich. Materielle Bedingungen und vor allem kulturpolitische Richtlinien legten jedoch fest, was zum staatlich sanktionierten, sozialistischen Musikverständnis gehörte, und bestimmten sowohl Produktion, Zirkulation als auch Rezeption aller Musikströmungen.

Zu diesen machtpolitischen Regelungsstrukturen gehörte auch das verhasste Einstufungssystem, welches Bands wie auch DJs zwang, vor einer Einstufungskommission vorzuspielen, um so eine offizielle Spielerlaubnis zu erhalten – die  so genannte Pappe. Diese Kommissionen, zumeist vom der Kulturabteilung des Rates der Stadt bzw. den „Kulturkabinetten“ aus Kulturfunktionären, Musikschullehrerinnen und anderweitig für das sozialistische Kulturleben qualifiziertes Personal bestehend, erteilte nach Gutdünken und unter Auflagen ganzen Bands (oder „Volkskunstkollektiven“) die Erlaubnis, nicht nur überhaupt  in der Öffentlichkeit auftreten zu können, sondern auch absurd wenig Geld dafür verlangen zu dürfen. Das belief sich in der „Grundstufe“ auf 4.- Ostmark pro Musiker – pro Stunde. Dass dies nicht für das Bestreiten des Lebensunterhaltes ausreichen würde, war von den Apparatschiks wohl beabsichtigt. Natürlich wurden diese Vorgaben von den meisten Bands, die als „Laiengruppen“ dennoch hauptberuflich unterwegs waren, wie auch Veranstaltern und Managern durch individuelle Verträge unterlaufen.

Die “Einstufung” als staatliches Reglementierungssystem

Aber an der Einstufungspraxis zeigte sich auch der generelle Unterschied in der Ausrichtung der alternativen Musikszene. Zum einen war ein beträchtlicher Teil der Bands, vor allem aus dem Punk-Bereich wie „Wutanfall“ und „L’Attentat“ überhaupt nicht interessiert daran, sich auch nur einen Deut an dieses sozialistische Zwangssystem anzupassen und lehnte eine Einstufung generell ab (wenngleich „Wutanfall“ tatsächlich eine eher symbolische Einstufungsveranstaltung im Kulturhaus „Arthur Nagel“ 1983 sehr wohl dazu nutzte, um auf sich und die widerständige Szene aufmerksam zu machen). 

In der Literaturszene z.B. war es „ein Ausweis von Qualität, nirgends gedruckt zu werden, da die Zensur in ihren Augen nur Schwachsinn und Lügen passieren ließ. Die unveröffentlichten – und selbst die ungeschriebenen Bücher – besaßen deshalb einen hohen geistigen Wert“ (wie Stefan Wolle in „Die heile Welt der Diktatur“ schreibt)  – gleiches galt für die Musikszene. Die DDR war sicher das Land mit den meisten unveröffentlichten Schallplatten. Eine Verbrüderung mit den staatlichen Organisationen und das Anbiedern an die Strukturen des realsozialistischen Kulturapparates, wie z. B. an das Label AMIGA kam für viele nicht in Frage, da es bedeutete, sich nicht nur politisch zu verbiegen, sondern auch Eingriffe in die künstlerische Souveränität zuzulassen. Die Radikalisierung der Autonomie innerhalb dieser Szenen führte damit zu einer Weigerung, aktiver Teilnehmer im sozialistischen Kulturbetrieb zu sein. Glaubte auch im Mainstream nie jemand so recht an die aktive Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft durch die Jugendkollektive und -brigaden – jetzt war es eindeutig, dass schon längst der für den Sozialismus nutzloseste Teil  der jungen Leute andere Alternativen gefunden hatte.

Zum anderen gab es die Bands, die weniger politisches Sendungsbewusstsein mit ihrer Musik verbanden und in deren Fokus die künstlerische Seite des Musikmachens stand. Verbunden wurde hiermit auch der Wille, damit auch den Lebensunterhalt zu verdienen – weil man auch schlicht auf einen Job in der sozialistischen Produktion keinen Bock hatte. Diese Bands – eigentlich alle „anderen“ Leipziger Bands – unterzogen sich also dem nervigen Prozedere und stellten sich den überalterten und inkompetenten Kulturbeauftragten der Stadt. Dies scheiterte oft genug beim ersten Mal Vorspielen. Gründe waren die Texte, das ungebührliche Bühnengebaren oder schlichtweg die zu laute und wenig virtuose Musik. Eigentlich war jede dieser unwürdigen Veranstaltungen zugleich auch an Skurrilität nicht zu überbieten. „Mad Affaire“ musste so bei einer Einstufungsveranstaltung im Eiskeller nicht nur gegen einen Musikrentner des Kulturkabinettes und der Musikhochschule Leipzigs anspielen, sondern es saßen auch ein blinder Musiker sowie eine schwerhörige ehemalige Musiklehrerin in der Kommission. Letzte sollte Noten für die Bühnenshow verteilen – geradezu lächerlich ihre Ablehnung des Auftrittes gemessen an den Maßstäben einer freien Kunst – nicht zu Schweigen von der generellen Ablehnung der englischsprachigen Texte. Auch „Die Zucht“ spürte die Macht des Kulturapparates, der der Band aufgrund des nicht konformen Namens die Einstufung verweigern wollte. So wurde dank eines Geistesblitzes des Schlagzeugers Thomas Stephan im Vorzimmer des Kulturkabinetts ein Kompromiss gefunden und die Band hieß fürderhin „Die Art“.

Doch mit der „Spielerlaubnis“ war einer landesweiten Karriere im Kosmos der „Amateurmusik“ noch lange nicht die Bahn geebnet. Zahlreiche Auftrittsverbote und andere Schikanen, wie das organisierte Einziehen von Bandmitgliedern zum Wehrdienst bei der NVA, sollten das Erstarken einer alternativen Musikszene in der ganzen DDR bis zum Ende behindern. Besonders stark traf diese Zersetzung die Punkszene – hier kamen oft noch konkrete Repressalien wie Aufenthaltsverbote für Musiker in bestimmten Städten, z. B. während der Messezeit in Leipzig oder willkürliche Verhaftungen und Zwangsarbeit im Straßenbau hinzu wie auch die Bespitzelung durch die Stasi und deren inoffizielle Mitarbeiter.

Kunst zwischen Repression und Freiraum

Entgegen der eher auf Musikalität orientierten Post-Punk und New-Wave-Bands entfalteten nämlich Punkbands wie Wutanfall oder L‘Attentat, die seit 1981 zu den Protagonisten alternativen Musikschaffens gehörten, von Beginn an politisches und ästhetisches Identifikationspotenzial. Hier stand die Botschaft im Vordergrund, die durch die Texte, Aussehen und die musikalische Attitüde im Alltag transportiert wurde. Erinnert sei an die von Ray Schneider verfassten Zeilen zu Leipzig in Trümmern und an viele andere seiner Texte. Nicht überraschend ist, dass solcherlei Bands keine Einladung zum Kessel Buntes, den Berliner Pfingsttreffen oder anderen vom Staat installierten Bühnen erhielten. Vielmehr mussten sie sich der Unterwanderung durch die Stasi und körperlichen wie psychischen Repressionen durch die Staatsorgane erwehren. Dennoch gelang es zum Beispiel auch den Skeptikern, L’Attentat und anderen Bands, in den 1980er Jahren ihre Platten auf westdeutschen Labels zu veröffentlichen.

Die Musiker dieser alternativen Szene waren im Allgemeinen Autodidakten und rekrutierten den Stamm ihrer Musiker aus ihren eigenen Reihen,  produzierten selbst Kassetten, ja, Musiker selbst gaben – wie das Beispiel der Leipziger Untergrundmusikmagazine Messitsch und Sno’Boy zeigt – Samisdat heraus. 

In Leipzig wie anderswo differenzierten sich recht schnell verschiedene Richtungen heraus, die sich mit unterschiedlichen Stilen und Mitteln der staatlichen Kulturpolitik widersetzten. So etablierte sich in der DDR nicht nur eine „andere“ Musikszene, sondern auch ein fulminanter Schwarzmarkt, auf dem neben Schallplatten westlicher Provinienz auch T-Shirts, Musikzeitschriften und selbst einzelne Fotos und Artikel zu für DDR-Verhältnisse völlig überteuerten Preisen gehandelt wurden. Jeder fand die passende Gemeinschaft zu seinem/ ihrem Lebensstil und die entsprechende Musikszene. 

Zum anderen kristallisierte sich bei vielen Bands eine enge Beziehung zu anderen Gegenkulturen heraus. So entwickelten sich z. B. die protestantischen Gotteshäuser immer mehr zu Sammlungsorten von Gegenöffentlichkeiten und emanzipierten Bürgern, von Blues bis Punks. Diese Offenheit der Kirche war in den 1980er Jahren nicht nur auf eine Szene beschränkt – viele Punkbands wie WutanfallL’Attentat oder Die Zucht in Leipzig durften in den heiligen Räumen ein neues Publikum erschrecken und sich sogar mehrfach in kirchlichen (Probe- und Veranstaltungs-)Räumen üben oder wie im Mockauer Kirchenkeller der Stephansgemeinde, auf kirchlichen Festen wie in Neukieritzsch oder direkt in den Räumen der Michaeliskirche spielen. Im Mockauer Keller trafen sich nun nicht nur Punks, sondern es entstand so eine bunte Szene, die zwar nicht gleichgeschaltet war, sich aber doch ähnelte im Aufbegehren gegenüber der staatlichen Politik- und Kulturhoheit. 

Selbst im „Eden“, einer der wenigen offiziellen Innenstadtdiscos, fand sich ein alternativer Kreis, äußerlich auftretend wie deren New Wave/New Romantic Idole und eher an westlicher Popkultur orientiert – ganz im Gegensatz zu jenen Punks, die sich unweit davon am Obstweinstand am „Warenhaus Konsument“ fast täglich trafen u.a. die damals stadtbekannte O.W.B., die Obstweinbande, um die Freude an billigem Obstwein und der Gemeinschaft Gleichgesinnter zu teilen.

Akzeptanz und Selbstbestimmung der Szene

Die Punks der ersten Stunde in der DDR und damit auch in Leipzig waren selten übersättigte Abiturienten wie mitunter jene aus der BRD, die gelegentlich über die Berliner Stadtgrenze kamen um Fraternisierungsversuche mit Ost-Punks zu starten – letztendlich aber von diesen ordentlich abgezogen wurden. Es waren auch nicht die Punks der späteren DDR-Generation,  die aus der langweiligen Welt des sozialistischen Bildungsbürgertums flüchteten, sondern Arbeiter und „Asoziale“ im Umfeld der Hausbesetzerszene, die sich der maroden Innenstadthäuser annahmen, um an neuen Lebensentwürfen zu bauen. Aus dem Umfeld der proletarischen Vorstädte heraus entstanden Lebensstile, die nicht nur der Staatsmacht suspekt waren. Bevor der Punk als rein audiovisuelles Versatzstück dann doch Ende der 80er den Weg in die Amiga-Studios fand, war er ein Phänomen, welches einiges an politischem und widerständigem Engagement der Musiker wie auch Mitstreiter erforderte. Im Sog der wachsenden Popularität dieser Musik und des Lebensstils des DDR-Punks, dem ja ein direkter Abgleich mit den westlichen Originalen weitgehend verwehrt blieb, entstand neben den Bands der ersten Stunde eine illustre Szene von politisierendem Punk (WutanfallL’AttentatDer Demokratische KonsumZwitschermaschineSchleimkeim), Funpunk (Feeling BSkeptiker) bis Post-Punk / Darkwave (Die ArtDie VisionFreunde der italienischen Oper) aber auch Dadapop (AG Geige), Independent Rock / New Wave (die anderen, SandowHerbst in PekingMad AffaireHard Pop) und viele andere: Ausprägungen, die ein unterschiedlich ambitioniertes Publikum versammelten. Dabei wurden die Kontakte und Gemeinsamkeiten zu der etablierten DDR-Rockszene in der Mitte der 1980er Jahre immer enger. Mit der Erosion des staatlichen Kulturmonopols auf Grund der gesamtpolitischen Entwicklungen war es auch den musikalischen „Randgruppen“ möglich, ins Bewusstsein breiter Massen vorzustoßen – und als Bands und Musiker am großen Kuchen der Popularität teilzuhaben. FDJ-Clubs, das Radio, der Film und sogar das Fernsehen leisteten dieser Annäherung mit einer verhaltenen Öffnung einen Vorschub. Dafür sind die Radiosendung „Parocktikum“ bei DT64 oder die „Rockfestivals“ der Leipziger IG „Rock“ beredtes Zeugnis. Oft ging dies aber mit dem Engagement von Einzelpersonen einher, die ihre Verankerung in den staatlichen Strukturen und Kulturstätten nutzten, um Türen zu öffnen – so in der NATO (Klubhaus der Nationalen Front), im Studentenklub „Moritzbastei“, im „Jörgen Schmidtchen“  – ja selbst in Kinos wie dem Regina fanden Punk und Konzerte der „anderen“ Bands statt. Punk und Independent-Musik wurden in diesem Prozess zunehmend ästhetisiert und in der Hauptsache mehr als Musikstil denn als Bewegung und Ausdruck einer Lebensweise bestimmter Schichten und Jugendgruppen in den kulturellen Alltag integriert. Viele der alternativen Bands verfügten Ende der 80er Jahre auch über ein eigenes Management und einen mehr oder weniger professionellen Eigen-Vertrieb der selbstproduzierten Kassetten und Poster zu den Auftritten.

An diesen Prozessen lässt sich nachvollziehen, wie das Phänomen Punk und Post-Punk über Anpassung der Bands einerseits und die Agonie des kulturstaatlichen Programms andererseits den Weg in den Mainstream gefunden hat. 

Mit der Erosion der DDR, der großen Ausreisewelle 1984, Perestroika und dem eigenen sozialistischen Weg der DDR ins Nirvana der Weltgeschichte ab 1986, lockerte sich der Apparat und die verschiedenen Musikstile konnten ihr Bewegungspotenzial auch in tatsächliche Masse und Wirkungsmacht umwandeln. Die Kulturhäuser der FDJ öffneten ihre Pforten genauso wie das Plattenstudio und, etwas verhaltener, das offizielle Radio und Fernsehen. So häuften sich im Verlauf der 1980er Jahre auch die Festivals, mit denen versucht wurde, die Entwicklungen in den jungen, alternativen Szenen zu ‚steuern‘:

Im Oktober 1988 wurden Die Skeptiker und Sandow sogar Preisträger der IX. Werkstattwoche Jugendtanzmusik und daraufhin von der Szene als ‚FDJ-Punks‘ gebrandmarkt. Dennoch ist auf der anderen Seite urwüchsiger und widerständiger Punk als Bewegung erhalten geblieben. Viele Vertreter dieser Bewegung mussten bis zum Ende der DDR unter Verfolgung und Repression leiden. Nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihren eigenen Reihen Menschen befanden, die mit der Staatssicherheit zusammenarbeiteten und nicht davor zurückschreckten aus Eitelkeit oder Geldgier MusikerkollegInnen ins Gefängnis zu denunzieren. Dies betraf zum Erschrecken aller insbesondere die Leipziger Punklegenden „Wutanfall“ und „L’Attentat“. So hatten die Punks „Fleischer“, Conni und „Ratte“ im Leipziger Neubaugebiet Grünau  auf “Trafohäuschen” und Autos u.a. “Freiheit für Jana, Mita und A-Micha” gesprüht, womit sie Freiheit für Mitglieder von “Namenlos” aus Berlin forderten, die im Knast saßen, weil sie in ihrer Punkband “Nazis wieder in Ostberlin” gesungen hatten, was von den Staatsorganen wenig gelitten wurde. Auf dem Pressefest der LVZ stellte die Stasi in einem eigenen Pavillon diverses sichergestelltes Material aus, bunte Zeitungsbildchen, bekritzelte Stofftaschen. Alle bekamen Haftstrafen von 7 bis 10 Monaten dank der Hinweisgeber aus den eigenen Reihen. Der Sänger von L’Attentat, Bernd Stracke wurde 1985 in den Knast geschickt, zusammen mit der „Mittäterin“ Marlies, die einen Brief in den Westen der beiden abgetippt hatte. Dieses traurige Kapitel der Leipziger Musikgeschichte wurde erst nach der Öffnung der Stasiunterlagen offenbar. Was von allen geblieben ist, sind jedoch nicht nur unzählige Dokumente kreativen Musik- und Kunstschaffens, sondern auch ein Lebensgefühl, welches bis heute in Generationen von Leipzigern weitergelebt wird.

(c) Jasper A. Friedrich (2020)


DIE ZUCHT – DIE ART

1985 hervorgegangen aus „Die Zucht“, sind „Die Art” heute immer noch eine der deutschlandweit bekanntesten Bands der Leipziger Musikszene. Ihr eigenwilliger Post-Punk und Independent-Sound ließ sie in der DDR schnell zu einem Aushängeschild der so genannten „anderen Bands” werden. Angelehnt an die großen Vorbilder von „Joy Division“ bis „The Fall“, prägten sie mit ihren düsteren Songs und ihrem Mix aus deutschen und englischsprachigen Texten die ostdeutsche Szene über Jahre hinweg. 

DIE ZUCHT

Begonnen hatte alles 1982. Inspiriert von den aus dem Westen Deutschlands importierten Schallplatten, wie „The Stranglers“, „Exploited“ aber auch Ozzy Osbourne, beschlossen die Leipziger André Friedrich, Thomas Stephan und Jan Hohmann, ihre eigene Band zu gründen. Aus Langeweile, wie man munkelt, um endlich dem erstickenden Grauschleier der staatlich verordneten Einheitskultur etwas Lebendiges, Kompromissloses entgegenzusetzen. 

Zwar besaß lediglich Friedrich ein Instrument, oder besser gesagt, eine alte Wandergitarre, der er nur mit großer Mühe vernünftige Töne entlocken konnte, und Jan Hohmann baute seinen Bass selbst. Doch die Virtuosität im Umgang mit den Instrumenten sollte nicht im Mittelpunkt der Bandgründung stehen. Viel wichtiger war es, mit einer für Teenager typisch offen und provokativ zur Schau gestellten Attitüde gegen den Strom eines fast schon lähmenden DDR-Alltags zu schwimmen. 

Noch ambitionierter verlief die Namensgebung. Die drei benannten sich nach der sowjetischen Nachrichtenagentur „TASS“. Vom Westen als Legende mystifiziert, diktierte sie allgegenwärtig allen DDR-Bürgern, einschließlich den obersten Genossen des ZK, wie die „richtige Wahrheit“ auszusehen hatte. 

Komplettiert wurde die Band wenig später von Stefan Müller, der sein Gesangsdebüt bei den ersten Proberaumversuchen gab. In einem Seitengelass von Jan Hohmann ́s Wohnung gleich neben der Lindenauer „Musikalischen Komödie“ wurde der Bandlärm aber nur kurzzeitig geduldet. Vielleicht lag das ja am schrägen Sound des selbstgebauten Basses oder des wild zusammengestellten Schlagzeuges; so wurde kurz darauf der erste eigene, richtige Proberaum in der Sternwartenstraße bezogen. Da probte, nur einen Steinwurf entfernt die damals schon legendäre Punkband „Wutanfall“. Auf dem Dachboden in der „Stewa“ 55 wurde aber nicht nur Musik gemacht, sondern traf sich auch die Punkund Subkulturszene. Hier wurden erste vorsichtige Kontakte geknüpft. Als „Türöffner“ half dabei die Bekanntschaft zwischen Wutanfall-Sänger Chaos, Friedrich und Tom; die drei kannten sich aus ihrer gemeinsamen Berufsschulzeit.

Wutanfall-Bassist Zappa und Tilo Hartig, beide wohnten in der „Stewa“ 55, waren neugierig geworden und tauchten schon bald im „TASS“- Proberaum auf. Im Schlepptau der Freund ei- nes Freundes, Holger „Makarios“ Möbius. Seine Vorlieben für „Bauhaus“ und „Joy Division“ waren unüberhörbar, aber auch Tilo Hartig stand auf diesen Sound. Nach einem kurzen Intermezzo eines weiteren Sängers, stießen Tilo am Bass und „Makarios“ als neuer Sänger zur Band. Bassist Jan Hohmann hatte unterdessen einen abenteuerlichen Fluchtversuch in den Westen unternommen. 

Neue Besetzung neuer Sound und auch ein neuer Bandname folgten. Das „TASS“-Modell wurde vom Zeitgeschehen überholt und der neue Song „Zucht und Ordnung“ gab die Vorlage: „Die Zucht“ traten zum ersten Mal im März 1984 auf. Anlässlich einer Ausstellungseröffnung Leipziger Künstler performten sie neben Musikern aus Ost-Berlin in einem Leipziger Abrisshaus. 

Vom Abriss bedroht war auch der alte Proberaum. Den Umzug in einen neuen organisierte der frisch akquirierte Keyboarder Harald Martin. Über der elterlichen Wohnung auf dem Dachboden der Philipp-Rosenthal-Straße gelegen, war aber auch dieses Refugium nur kurze Zeit verfügbar. Denn im Sommer 1984 durfte Harald in die BRD ausreisen und Tilo bekam grünes Licht für die Heirat seiner englischen Freundin. Damit war auch dessen Ausreise Richtung Großbritannien nur noch eine Frage der Zeit. Ab diesem Moment wurde Christoph Heinemann von „DeltaZ“ als neuer Bassist eingearbeitet. 

Im Sommer 1984 folgten einige Auftritte, bei denen Tilo und Christoph abwechselnd Bass spielten sowie Friedrich und Tilo zwischen Gitarren und Keyboard changierten. Aus dieser Zeit ist erst kürzlich ein Live-Mitschnitt eines Open-Air-Konzerts wiederentdeckt worden, der sich auf dem Album „Heldenstadt anders“ befindet. 

Nach Harald Martins Ausreise musste wieder ein neuer Proberaum her. Mit dem Rücken zur Wand löste der gelernte Drucker „Makarios“ das Problem. Als Gegenleistung für einen Proberaum in seiner ehemaligen Berufsschule akzeptierte die Band zwei neue Mitglieder: einen Saxophonisten und einen Techniker. Wenige Monate später wurde ein neuer, eigener Proberaum gefunden und das Saxophon-Kapitel geschlossen. 

Makarios (voc)

In diesem relativ kurzen Zeitabschnitt entstanden auf den Fluren und dem Dachboden der Berufsschule einige wichtige Session-Recordings. 

Bereits Frühjahr 1984 nahm im Band-Line-Up Friedrich, Tom, Tilo, Makarios und Harald die Idee einer Einstufung ganz konkrete Formen an. Man hatte genug von geheimen Auftritten in dunklen Kellern, die jederzeit abgesagt werden konnten. Man wollte endlich raus ins Rampenlicht der großen Bühnen. Und auf die zu erwartenden Repressionen des DDR-Regimes als Undergroundband, wie sie „Wutanfall“ exemplarisch erleiden mussten, hatte niemand Lust. 

Im Mai 1985 stand „Die Zucht“ vor der staatlichen Einstufungskommission. Die verweigerte zuerst den Bandnamen als „unsozialistisch“, bot dann aber fast gleichzeitig einen Handel an. Die „Mittelstufe“Spielerlaubnis sei überhaupt kein Problem, nur umbenennen müsse sich die Band, so ein Mitglied der Einstufungskommission. 

Schlagzeuger Tom schoss an einem Sommertag spontan „Die Art“ als neuer Bandname durch den Kopf. Gedacht, gesagt, getan. Das Leipziger Stadtkabinett für Kulturarbeit lag auf seinem Weg und wortlos legte er zur nächsten Probe die frisch gestempelten „Pappen“, wie die offiziellen Spielerlaubnisdokumente auch genannt wurden, auf den Tisch. 

Das ist der Beginn von „Die Art“ mit dem Line-Up: André Friedrich (Git.), Thomas Stephan (Drums), Holger „Makarios“ Möbius (Voc.), Christoph Heinemann (Bass). 

DIE ART

Als André Friedrich November 1985 von der Nationalen Volksarmee (NVA) in eine Baukompanie eingezogen wurde, brachte ihm „Die Art”Pappe zwar einige Erleichterungen während seiner 18-monatigen Kasernierung, die Band aber brauchte dringend einen neuen Gitarristen. Friedrichs Nachfolge trat Thomas Gumprecht an, der ab September 1985 eingearbeitet wurde. 

Nach seiner Armeezeit kehrte André Friedrich im Frühjahr 1987 für einige Proben und ein letztes Konzert im Eiskeller zurück. Sein Engagement bei „Die Art” endete im gleichen Jahr endgültig mit Gründung seiner eigenen Band „Mad Affaire“. 

Ein neues Berliner Band-Management sorgte ab 1987 für einen Karrieresprung. Adam Adamski, Manager der Ost-Berliner Band „Die Anderen“, nahm „Die Art“ unter seine Fittiche. Als dieser in den Westen übersiedelte, wurde Lars Wünsche der neue Mann in Berlin. 

Die enge Anbindung an die Hauptstadt sorgte auch für die Aufmerksamkeit von Lutz Schramm. Der Macher der DT64-Sendung „Pa-Rock-Ti-Kum“ spielte „Die Art“ zum ersten Mal im Juni 1986 im landesweit ausgestrahlten Rundfunk. Was folgte, war ein enormer Popularitätsschub. Vom bis dato einzigen selbstproduzierten Tape „Would you mind us looking for“ suchte sich Lutz Schramm den Titel „Chrome“ aus. 

Der von André Friedrich geschriebene Songtext erfuhr zusätzliche Bekanntheit durch den eigens dafür entworfenen Die-Art-Chrome-Text-Aufkleber, der zumindest inoffiziell zum „meist geklauten Sticker“ avancierte. 

Regulären Jobs ging in dieser Zeit niemand mehr nach. Alle fokussierten sich auf die Band. Der problemlos im „Eiskeller“ erspielten „Oberstufe“ folgte 1989 die höchstmögliche „Amateurtanzmusiker“Einstufung in der „Sonderstufe mit Konzertberechtigung“. 

Juni 1989 fand das wohl umstrittenste und bis dato gleichzeitig größte Konzert statt. Beim Berliner „Pfingsttreffen der FDJ“stand „Die Art“ gleich um die Ecke des DDR-Staatsratsgebäudes vor ca. 10.000 Open-Air Besuchern. Dem voraus gingen zahlreiche Band-interne Diskussionen über das „Für“ und „Wider“ dieses Auftritts. Am Ende spielte die Band das Konzert in der vollen Überzeugung: Wer irgendeine Veränderung herbeiführen wolle, müsse auch in die „Höhle des Löwen“ gehen und das auch den zu erwartenden Vorwürfen zum Trotz, eine „FDJ-Band“ zu sein. Diese Diskussionen ließen nicht lange auf sich warten. Allerdings brachte die Festivalteilnahme der Band keine Vorteile – im Gegenteil: Das Angebot einer LP-Produktion beim einzigen DDR-Label „Amiga“ lehnten „Die Art“ von sich aus ab, denn das Staatslabel forderte, entweder auf den aktuellen Hit „Wide Wide World“ komplett zu verzichten oder ihn umzutexten.

So blieb es bei der einzigen Amiga-Veröffentlichung auf dem 1989er AmigaSampler „Parocktikum die anderen Bands“ mit einem DT 64-Live-Mitschnitt von „Sie sagte“. 

Das Jahr 1989 taumelte dem Ende entgegen, wie auch die DDR: Schlagzeuger Thomas Stephan flüchtete über die seit Anfang September offene ungarische Grenze nach West-Berlin und entkam so der drohenden Armeeeinberufung. Für „Die Art“ aber wurde die nervenaufreibende Suche nach einem gleichwertigen Drummer zur puren Existenzfrage, denn ein Ende der Zwangspause war nicht in Sicht. Doch der plötzliche und vollkommen überraschende Mauerfall am 9. November eröffnete neue Perspektiven für die Band. 

Dirk Scholz von „Wartburgs für Walter“ trommelte erst seit Kurzem bei „Die Anderen“. Die aber beschlossen noch in der Nacht des Mauerfalls sich aufzulösen. So spielte sich Scholle in kürzester Zeit bei „Die Art“ ein, „Amiga“ hieß jetzt „Zong“, „VEB Deutsche Schallplatten“ ersetzte das „VEB“ durch „GmbH“ und „Wide Wide World“ kam mit auf ́s erste Album. 

Was folgte, waren Ü-Wagen-Konzert-Mitschnitte und Studiosessions im OstBerliner Krex-Studio, die der Sender DT-64 genehmigte und auch bezahlte. So mauserte sich „Die Art“ Schritt für Schritt zum festen Bestandteil des landesweit ausgestrahlten DT-64-Rundfunkprogramms. Das alles wäre aber ohne das persönliche Engagement von Radiomachern wie Lutz Schramm niemals möglich gewesen.

1987 verstärkte kurzzeitig Andy Seyffert die Band an den Keyboards, nachzuhören auf dem ersten Tape „Would you mind us looking for“. Nach seiner Ausreise kristallisierte sich ab Herbst 1987 das Kern-Line-Up der kommenden Jahre heraus: Thomas Stephan (Drums), Holger „Makarios“ Oley (Voc.), Christoph Heinemann (Bass), Thomas Gumprecht (Git). 

1988 gründete sich das eigene Kassetten-Label „Hartmut Productions“. Die Idee stammte von Thomas Stephan und Christoph Heinemann, die grafische Gestaltung der Cover lag zu DDR-Zeiten in den Händen des Schlagzeugers. 

Das zweite von insgesamt vier Tapes, die bis zum Mauerfall illegal veröffentlicht wurden, entstand, wie auch das erste, in mühevoller Handarbeit. Angefangen mit der kleinteiligen, photographischen Cover-Vervielfältigung auf Grund der nicht existenten Kopierer im „real existierenden Sozialismus“, bis hin zur Kassetten-Einzelüberspielung mit dem Doppel-Tapedeck der Eltern. 

Auch die elterliche Garage des Bassisten in der Philipp-Rosenthal-Straße musste mittlerweile als Proberaum herhalten. Hier entstanden spätere Hits wie „Das Schiff“, „Eternal Fall“ oder „Wide Wide World“. 

Im Frühjahr 1990 begann der Sound-Check im Berliner „Amiga“Studio im Hinterhaus der Brunnenstraße 154, einem ehemaligen Kinosaal, die Record Release Party Herbst ́90 im „Haus der jungen Talente“ wurde zum euphorischen Rausch, die anschließende Tour ein großer Erfolg. 

Berlin war jetzt DER Dreh- und Angelpunkt der Band. Hier lebte Christoph Heinemann seit Frühjahr 1989, der neue Proberaum befand sich im ehemaligen Stasi-Wachregiment „Felix Dzierzynski“, 1991 kehrte Thomas Stephan zur Band zurück und „Die Art“ produzierten zwei weitere Alben für die „Deutsche Schallplatten Berlin GmbH“. Die war 1993 pleite und wurde kurzerhand von der Treuhandanstalt liquidiert. 1994 begann die Zusammenarbeit mit „Our Choice“/„Rough Trade“ über insgesamt weitere fünf Alben. 

1999 trennte sich die Band von Gründungsmitglied Christoph Heinemann, Bassist und wichtigem Songschreiber. Dieser Verlust konnte nicht mehr ausgeglichen werden und „Die Art“ lösten sich 2001 nach ihrer Abschiedstournee auf. 

Der Rest der Band versuchte unter dem Namen „Wissmut“ einen musikalischen Ausweg zu finden. Der erwies sich jedoch als Irrweg. Geprägt von vielen internen Querelen und wechselnden Schlagzeugern trat „Die Art“ 2007 wieder unter alten Bandnamen auf, nachdem Thomas Stephan für dessen Verwendung sein Okay gab. Conrad Hoffmann (Bass), Thomas Gumprecht (git) und Holger „Makarios“ Oley (voc) stellen seitdem das neue Kern-Line-Up der Band. 

DIE ZUCHT

André Friedrich g
Thomas Stephan dr
Holger „Makarios“ Möbius voc
Tilo Hartig – bg (bis Herbst 1984) Christoph Heinemann bg (ab Herbst 1984) Harald Martin – Orgel (1984) 

DIE ART

Holger „Makarios“ Oley voc, lyrics
André Friedrich g (bis 10/1985) / Thomas Gumprecht g, comp (ab 10/1985)
Thomas Stephan dr (1985 1989, 1991 bis 2002) Christoph Heinemann bg, comp (bis 1999) Konrad Katschinga sax (1985)
Andy Seyffert keyb (ca. 1986/87)
Dirk Scholz dr (1989 1991)
Stephan Rebbelmund g (1991-1992)
Susanne Thiele cello (Gast 1998)
Christian Schierwagen bg (2000)
Conrad Hoffmann bg, comp (2001 und ab 2007) Mark Helmstädter dr (2001)
Shiva Rudra (= Sven Löbert) dr, comp (2007 2017) Jens „Jeans“ Halbauer dr (2017) 

1993: Das letzte Konzert (lim. Tape, Hartmut Productions)
2005: Das letzte Konzert (LP Bootleg, Crutch Records / Major Label Vertrieb) 

1987: Would you mind us looking for? (Tape, Eigenproduktion, später Hartmut Productions)
1988: Just another Hit (Tape, Hartmut Productions)
1989: Dry (Tape, Hartmut Productions) 

1989: Just another Hit again (Tape, Hartmut Productions) 

1990: Live in Lugau 1989 (Tape-Bootleg, Heimat Kassetten) 

1990: Fear (LP/CD)
1990: Live im HdjT Labelparty Z (Tape, Hartmut Productions / Graffity Records) 1991: Gold (LP/CD, Zong)
1991: The wellknown & unknown Songs (Tape Compilation, Hartmut Productions) 1993: Gift (CD, DSB)
1993: Live Radio War (Tape-Bootleg, Endlos Records)
1993: Schall & Rauch Live in Leipzig 1993 (Tape-Bootleg, Heimat Kassetten) 1994: But (CD, Our Choice/Rough Trade)
1995: Das Schiff (CD, Our Choice/Rough Trade)
1996: Still (CD, Our Choice/Rough Trade)
1997: Adnama (CD, Our Choice/Rough Trade)
1998: Mellow Versions (CD, Our Choice/Rough Trade) 

1999: Dry (Wieder-VÖ auf CD, Our Choice/Rough Trade)
2000: Last (CD, UpArtProd.) 

2002: Last Live Sequences (CD, Löwenzahn)
2004: als Wissmut: Sonne & Mond (LP, Major Label)
2005: als Wissmut: Bi (CD, Upart/Brachialpop)
2006: als Wissmut: Bi4 (LP, Major Label)
2006: als Wissmut: Gigant Vinyl (CD; Upart/Brachialpop) 2007: Alles Was Dein Herz Begehrt (CD, Upart/Brachialpop) 2008: Funeral Entertainment
2009: Für Immer Und Ewig (Best Of)
2010: Twenty Fear (Best Of)
2012: Arcane (CD, DVD, Upart/Brachialpop)
2013: Forgotten Treasuries (CD, Upart/Brachialpop)
2014: Suxxess (CD, LP, Upart/Brachialpop, Major Label) 2017: XXX Live (CD, LP, Upart/Brachialpop, Major Label) 

Text: Andre Friedrich & Christoph Heinemann, 2018 

Thilo Hartig 1984 (bg, g) auf einem Konzert mit DIE ZUCHT in der Michaeliskirche Leipzig

O-Ton Tilo Hartig (Bassist von DIE ZUCHT bis 1984) über die Einstufung:

Ich kam etwas später, da ich meine Jahresendprämie von der HO abholen musste, und alle außer Harald Martin waren schon da. Ich glaube, Friedrich hat es nicht geschafft. Dieser geschniegelte, Anfang 30er Yuppie war übermäßig freundlich und fragte uns jeden einzeln aus. Welche Instrumente wir spielen und was wir zum Konzept der Band beitragen. 

Als er zum Schluss bei Makarios (mit Gummiarm) ankam, sagte dieser: „Ich singe und schreibe so gut wie alle Texte.“ 

Yuppie: „Hast du vielleicht mal daran gedacht ein Instrument dazu zu spielen?“ 

Thomas und ich verzogen das Gesicht zu einem verkrampften Lächeln, um das Lachen zu unterdrücken. 

Makarios: „Ja, Mundharmonika und Tambourin passen aber nicht so ganz zu unserer Musik.“ 

Yuppie gräbt weiter: „Vielleicht eine zweite Gitarre?“ 

Makarios: „Ja das wäre wirklich keine schlechte Idee aber …“ (Hebt dazu den bisher nicht erkannten Gummiarm. Yuppie wird ganz rot im Gesicht und entschuldigt sich.) 

Endlich kommt Harald Martin dazu. Ein weiteres kurzes und verkrampftes Lächeln. Yuppie verspricht schnell, einen Brief zu schreiben, der uns für unser Bemühen, eine Einstufung zu erreichen, den Proberaum für 6 weitere Monate garantiert. 

Wir verlassen dieses Büro in der Börse und lachen alle laut im Treppenhaus. Makarios sagt dann: „Jetzt haben wir endlich einen Namen für die Gruppe: Der Einarmige Bandit.“ Ich fragte die anderen, ob sie es nicht komisch fanden, dass uns der Yuppi plötzlich so schnell loswerden wollte. 

Worauf Harald Martin sagt: „Ich nicht. Dieser Typ hat eine Affäre mit meiner Schwägerin. Er weiß, dass ich es weiß, denn ich begegne ihm ab und zu im Treppenhaus.“ 

Makarios (voc), André Hodscha Friedrich (g, voc), Thilo Hartig 1984 (bg, g) auf einem Konzert mit DIE ZUCHT in der Michaeliskirche Leipzig

DIE HARTMUTS

Die „Hartmuts“ existierten eigentlich nur für ein einziges, dafür aber legendäres Konzert, welches im Frühjahr 1989 im Regina Palast, einem Kino im Stadtteil Reudnitz, stattfand. Der Name der Band geht auf die Verballhornung der Aussprache des sächsischen Prolls zurück. 

Bereits ein Jahr zuvor hatten „Die Art“-Musiker Thomas Stephan und Christoph Heinemann unter diesem Namen ihr bandeigenes Label gegründet. 

„Hartmut“ war als eine Art „All Star“-Gruppe der Leipziger Musikszene gedacht. Neben Andrè Friedrich von „Mad Affaire“,
Thomas Stefan und Christoph Heinemann von „Die Art“ gesellte sich noch Andreas Falkenstein von  „Kulturwille“ zur munteren Runde. Ein Glas voller 45%igem Alkohol, welches Sänger Friedrich fünf Minuten vor dem Auftritt gereicht wurde, setzte die Katastrophe in Gang. Nach dem Auftritt waren wohl alle Beteiligten froh, dass es vorbei war und sie beschlossen, kein weiteres Mal als „The Hartmuts“ aufzutreten. 

1993: Live Regina-Palast 1989 (Hartmut Productions) 

André Friedrich voc, g,  Andreas Falkenstein g Christoph Heinemann bg Thomas Stephan dr 

Im September 2019 fand sich Die Zucht für ein Konzert im UT-Connewitz zusammen mit vielen anderen Leipziger Bands beim Festival “Heldenstadt anders” erstmals wieder zusammen. Ende November 2020 erschien das Album “Heimatlied” mit 11 Neu-Einspielungen alter Zucht-Songs.